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»Ich bin zu der Telefonzelle an der Ecke gegangen, weil ich mit dir sprechen wollte.«

»Ja«, sagte Eva.

»Ich hatte gestern wirklich Angst, dass dir etwas passiert ist.«

Eva schwieg. Aus der Kьche drang das Klappern von Geschirr.

»Eva«, sagte der Vater. »Die Ohrfeige gestern, die hдtte ich dir nicht geben sollen.«

Eva presste den Hцrer fest an ihr Ohr. »Ich hдtte ja auch anrufen kцnnen«, sagte sie.

»Ja, hдttest du.«

»Aber das ging nicht. Ich war in einer Diskothek tanzen. Das erste Mal.«

»War es schцn?«

»Ja. Sehr.«

»Ich muss zurьck ins Bьro«, sagte der Vater. »Also, das nдchste Mal rufst du an, ja? Bis spдter.«

»Bis spдter, Papa.«

Eva ging in die Kьche. »Mama, soll ich fьr dich ein­kaufen gehen?«

Sie musste ьber das erstaunte Gesicht der Mutter la­chen. Und sie lachte auch noch, als sie den schweren Einkaufskorb nach Hause trug. Sie fьhlte sich so leicht, so schwebend, sie wurde nur durch das Gewicht der Kartoffeln, der Дpfel und des Mehls auf der Erde gehalten. »So schlimm ist er nicht, mein Vater. Das soll ihm erst mal einer nachmachen, extra zur Telefonzelle gehen und anrufen!«

Sie beschloss, abends von dem Sommerfest im Frei­zeitheim zu erzдhlen. Sie wollte unbedingt hingehen.

Vielleicht wьrde er es erlauben, heute, wo er so sanft war.

Eva hatte zum Abendessen fast nichts gegessen vor Aufregung. Der Vater war zwar sehr freundlich ge­wesen, als er von der Arbeit gekommen war, hatte sei­nen Rundgang, den Kontrollgang, schnell und ohne v Meckern hinter sich gebracht, aber man konnte nie wissen!

»Bis zehn geht es am Samstag im Freizeitheim«, sagte Eva. »Und dann muss ich noch heimfahren. Vor elf kann ich nicht zurьck sein.«

»Kommt nicht in Frage, dass du so spдt allein durch die Gegend fдhrst.«

»Aber Fritz, bald sechzehn ist sie schon.«

»Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte Eva.

»Das weiЯ ich. Das habe ich in der letzten Zeit schon цfter hцren mьssen. Aber ich lasse meine Toch­ter nicht abends allein durch die Stadt fahren. Ich hole dich ab.«

»Um Gottes willen, Papa! Wie sieht denn das aus? Was sagen denn da die anderen, wenn du mich abholst wie ein kleines Mдdchen vom Kindergeburtstag!«

»Kein Wort mehr. Entweder ich hole dich ab oder du bleibst zu Hause. Was anderes kommt nicht in Fra­ge. Lest ihr denn ьberhaupt keine Zeitung? Jeden Tag Mord und Totschlag. Und Vergewaltigungen.«

Eva heulte fast vor Wut.

»Fritz«, sagte die Mutter. »Man muss seinen Kindern auch Freiheit geben. Das steht in jeder Zeitung drin. In allen Illustrierten kannst du das lesen. Und die Leute, die das schreiben, verstehen was davon.«

»Du glaubst auch alles«, sagte der Vater bцse. »Wie ich meine Kinder erziehe, lasse ich mir von niemand vorschreiben. Ich weiЯ selbst am besten, was gut ist fьr sie.«

»Aber Eva ist ein vernьnftiges, anstдndiges Mдd­chen. Sie hat noch nie eine Dummheit gemacht.«

»Und das soll auch so bleiben.« Der Vater ging in das Wohnzimmer und gleich darauf hцrte man die Stimme des Nachrichtensprechers.

»Gute Nacht«, sagte Berthold, der die ganze Zeit schweigend dabeigesessen hatte.

Die Mutter wandte sich dem Abwasch zu. »Dass es immer Krach geben muss.«

Eva verlieЯ die Kьche und knallte die Tьr hinter sich zu.

Sie saЯ in ihrem Zimmer und malte wьtend groЯe, schwarze Striche auf ein Blatt Papier. Die Mutter kam mit einem Tablett herein. »Ich habe dir was zu essen gemacht. Du kannst doch nicht ohne Essen schlafen gehen.«

Auf dem Tablett stand neben Brot und Butter eine geцffnete Blechdose mit Lachs, zartrosa, цlglдnzend.

»Echter«, sagte die Mutter. »Ich hatte ihn eigentlich fьr Papas Geburtstag gekauft. Aber jetzt bekommst du

ihn.« Die Mutter griff in ihre Schьrzentasche. »Hier ist auch noch eine Tafel Schokolade.«

Sie stellte das Tablett auf Evas Nachttisch. »Lass dich halt von ihm abholen«, sagte sie. »So schlimm ist das doch nicht.«

Eva schьttelte den Kopf. »Nein.«

»Ach Gott«, sagte die Mutter, »den Dickkopf hast du von ihm.« Sie legte die Hand auf die Klinke. »Ich muss jetzt rьber, sonst wird er bцse.«

Eva legte eine Kassette ein, Simon und Garfunkel, Bridge over troubled water, rollte ihre Zudecke als Rьckenstьtze zusammen und stellte das Tablett neben sich auf das Bett. Dann fing sie an, sich ein Brot zu schmieren.

Echter Lachs ist zu schade fьr Brot, dachte sie. Viel zu schade. Ich werde ihn nachher so essen.

Sie schmierte die Butter sehr dick. Butter, ganz kalt aus dem Kьhlschrank, auf weichem Brot, das war et­was Gutes. Sie aЯ zuerst rundherum die Rinde ab, dann machte sie sich an das weiche Innenstьck. Sorg­fдltig schob sie vor dem AbbeiЯen die Butter mit den Zдhnen nach hinten, bis sie nur noch ein kleines run­des Stьck ьbrig hatte, mit einem zahnspurigen Butter­wall drum herum. Sie betrachtete es lange, bevor sie es in den Mund steckte. When evening falls so hard, I will comfort you. Vll take your pari. Die Mдnnerstimme klang sanft, weich, einschmeichelnd. Eva kaute. Wenn ich achtzehn bin, dachte sie, dann ziehe ich aus. Noch

zwei Jahre und drei Monate. Und wenn ich von Was-ser und Brot leben muss! Sie strich Butter auf die zweite Scheibe. Ein Zimmer wьrde sie haben, nur ein ganz kleines natьrlich. Und sie wьrde Nachhilfestun- den geben, um die Miete bezahlen zu kцnnen. Zwanzig Mark wьrde sie sicher fьr die Stunde bekommen. Ma­the und Englisch konnte sie gut genug und auch in Franzцsisch wьrde es fьr die Unterklassen reichen. Viel Geld wьrde sie nicht haben, natьrlich nicht. Aber niemand wьrde ihr Vorschriften machen. Freiheit. Sie schob sich eine Scheibe Lachs in den Mund. Freiheit. Ein Wort, das wild und schцn in ihren Ohren klang, wie Abenteuer und groЯe, weite Welt. Wie zart der Lachs doch war. Er zerging einem ja richtig auf der Zunge. Echter Lachs! Geschieht dir ganz recht, dachte sie, als sie die zweite Scheibe langsam im Mund hin-und herschob. Geschieht dir ganz recht, dass ich ihn jetzt esse. Franziska darf abends so lange wegbleiben, wie sie will.

Vor der letzten Scheibe Lachs drehte sie die Kassette um. Es war zehn Uhr. Die Eltern gingen ins Bett. Sie hцrte die Wasserspьlung im Badezimmer. Automatisch drehte sie den Recorder leiser. »Gute Nacht«, rief die Mutter durch die Tьr. »Gute Nacht, Eva.«

Eva antwortete nicht. Freiheit! Noch zwei Jahre, drei Monate und fьnf Tage!

Sie nahm ein leeres Heft, ein Rechenheft, und schrieb auf die erste Seite ganz oben: Dienstag, L Juli,

und darunter: Mittwoch, 2. Juli, dann Donnerstag, 3. Juli, dann den vierten und immer weiter. Nach fьnf Seiten hцrte sie auf. Sie war erst beim achten Septem­ber. Morgen wьrde sie weitermachen oder ьbermor­gen. Und jeden Tag wьrde sie einen Tag durchstrei­chen, wie bei einem langen Adventskalender. Der Gedanke gefiel ihr. Sie fing an, neben die Zahlen kleine Bildchen zu machen. Einen Stier neben den ersten Juli, einen schwarzen Stier mit erhobenem Schwanz und Dampfwцlkchen aus den Nьstern. Einen runterhдn­genden groЯen Penis malte sie ihm noch hin. Das hatte sie mal gesehen, als sie bei Tante Irmgard zu Besuch war. Doch dann radierte sie ihn schnell wieder weg.

Morgen musste sie zur Schmidhuber, die wьrde ihr noch ein neues Kleid nдhen fьr Samstag. »Ein Som­merkleid ist ja schnell gemacht«, hatte die Mutter ge­sagt. »Wir gehen gleich nach dem Essen zum Kaufhof wegen Stoff.« Eva malte ein Sommerkleid neben den zweiten Juli. Ьbermorgen wьrde sie Michel treffen, um drei am Brunnen. Sie zeichnete ein Herz, suchte ihre Filzstifte und malte es rot an. AuЯen herum schrieb sie ganz klein: Amo te, ama nie! Ich liebe dich, liebe mich! Das stand auf einem Ring, den man bei ei­ner Ausgrabung gefunden hatte, hatte der Lateinlehrer erzдhlt. Und neben den Samstag setzte sie auch ein ro­tes Herz. Sie wьrde hingehen, und wenn sie ausreiЯen mьsste. Entschlossen klappte sie das Heft zu und steckte es in ihren Ranzen.

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