Heimkehr
Ein Würfel kann sechs verschiedene Augenzahlen ergeben. Ein Schwärm von
Atomen kann Millionen verschiedene Konstellationen einnehmen. Alle Atome der Welt
haben eine Anzahl von Positionsmöglichkeiten, die jeden Mengenbegriff sprengt — aber
auch diese Anzahl ist nur endlich.
Es gibt ein Gesetz der Mechanik, das aussagt, daß eine Verteilung von
statistisch bewegten Massenpunkten nach einer gewissen, sehr langen Zeit in beliebiger
Näherung wieder auftritt. Auf dieses Gesetz baut der einsame Mann im
Raumschiff.
Mir kommen jetzt so viele Dinge bemerkenswert vor, die ich früher nie beachtet
hatte. Wie wunderbar ist schon der Morgen und die Erkenntnis, daß es Tag geworden ist,
daß die Sonne scheint oder auch daß Regen fällt, daß es Häuser gibt, Straßen und
Gärten; daß ringsherum Menschen arbeiten, essen, schlafen; daß der Briefträger
vorbeigeht und die Marktfrau ihren Stand aufschlägt; daß die Gassenjungen toben, sich
die Hunde balgen; daß es Mittag wird, Nachmittag, Abend und wieder Nacht. Wie herrlich
ist das, aber ich weiß es erst jetzt. Ich war weit fort...
Seit meiner frühesten Jugend zog es mich zu den Sternen. Ich hatte mit Bender oft
darüber gesprochen. Und als er dann zu mir kam und mich fragte, ob ich mit auf
Raumfahrt gehen wollte, da stimmte ich begeistert zu. Er hatte aber nicht hinzugefügt,
wie lange die Reise dauern sollte.
Wir waren zu viert. Der älteste und zugleich der Chef des Unternehmens war Bender —
Astrophysiker und Astronom. Sabrinus ging als Getriebeingenieur mit, Lux als
Biochemiker. Ich sollte mich als Assistent von Bender betätigen, bald stellte sich
allerdings heraus, daß ich eher eine Rolle als Laufbursche und Küchenmädchen zu
spielen hatte. Aber es war mir alles recht: Ich war im Weltraum!
Dieses erhebende Bewußtsein hielt allerdings nicht lange an. Die Erde fiel rasend
schnell hinter uns zurück und versphwand. Über uns war Himmel und unter uns
Himmel. Ein dunkler Himmel, aber durch Myriaden Sterne aufgehellt. Es war wunderbar am
ersten Tag, am zweiten und vielleicht noch am dritten.
Vielleicht werden Sie mich nicht verstehen — ein Blick zum Sternenhimmel ist sehr
schön. Stellen Sie sich vor, Sie sehen überhaupt nichts mehr als Dunkelheit und
Sterne! Was dann kam, war Langeweile. Traurige, öde, stinkende Langeweile.
Wir fuhren elf Monate lang. Noch immer waren wir unserem Ziel — einem Dunkelnebel
im Schwan — nicht merklich näher gekommen. Eine gewisse Nervosität lag über uns
allen. Eines Abends — wir saßen gerade beim Essen beisammen — sagte Lux zu Bender:
„Manchmal habe ich verdammte Sehnsucht nach unserer alten Erde. Du mußt dir doch eine
Vorstellung darüber machen, wie lange die Reise noch dauern soll?"
Bender zögerte einen Augenblick. Dann lachte er: „Jetzt kann ich dir's ja
sagen. Und unser Baby wird es vielleicht auch interessieren. Zu unserer alten Erde
kommen wir nie zurück."
Baby — das war ich. Lux und ich starrten ihn entgeistert an. Nur der immer finstere
Sabrinus lächelte diesmal: „Ja, da staunt ihr! Wir fahren nahe bei der
Lichtgeschwindigkeit. Während hier die paar Monate vergangen sind, ist die Erde um
hundertzweiundsechzigtausend Jahre älter geworden. Aber um ein paar Jährchen kann ich
mich auch irren."
Ich hatte nicht gewußt, daß wir uns so schnell bewegten. Als ich nun aber
selbständig einige Messungen vornahm, überzeugte ich mich, daß er recht hatte.
Von dem Tag an wurde Lux stiller und stiller. Eines Tages fanden wir ihn tot im
Magazin und eine große Blutlache um ihn herum. Er hatte sich die Pulsadern
aufgeschnitten.
Vierzehn Jahre brauchten wir, um die Dunkelwolke zu erreichen. In diesen und den
nächsten Jahren kamen wir zu Ergebnissen über die Bewegung der Sterne, über die
Entstehung der Spiralnebel, über den Aufbau des Weltalls wie kein Mensch vor uns. Wenn
wir auf der Erde gewesen wären, wären wir berühmt gewesen. Aber wir waren nicht auf
der Erde.
Dreiundzwanzig Jahre nach unserem Start wurde Bender ernstlich krank. Es dürfte
Krebs gewesen sein. Er starb unter furchtbaren Schmerzen. Sabrinus und ich waren
allein.
Sabrinus war nie ein angenehmer Zeitgenosse gewesen. Er litt unter einem
furchtbaren Menschenhaß — wahrscheinlich hatte ihn das bestimmt, Bender Gefolgschaft
zu leisten. Denn ihm als Raketentechniker hatte dieser die Zeitdilatation nicht
vorenthalten können. Nun war ich das einzige Objekt seines Grimms. Es war kein
beneidenswertes Leben. Und dann merkte ich, daß er sonderbar wurde. Er hielt Reden vor
der Sichtluke und drohte den Sternen mit den Fäusten. Einmal schoß er ein ganzes
Magazin seiner Schnellfeuerpistole gegen die Scheiben — mit großer Mühe konnte ich die
Sprünge noch rechtzeitig abdichten.
Auch mit ihm nahm es ein schlimmes Ende. Ich saß gerade beim Astrospektrometer, als
ich das Klingelzeichen hörte, das das Öffnen der Luftschleuse ankündigte. Ich lief
hinaus und kam gerade noch zurecht, um eine zur Unkenntlichkeit aufgetriebene Gestalt
vom Schiff wegsegeln zu sehen — Sabrinus war ohne Schutzanzug in den Raum
gesprungen.
Nun war ich allein. Wissen Sie, was es heißt, allein zu sein? Milliarden von
Kilometern, Millionen von Jahren von der Heimat entfernt? Ich glaube, daß es niemand
nachempfinden kann. Und doch hielt mich etwas aufrecht. Zunächst kein Wissen. Nur eine
schwache, zagende, ahnungsvolle Hoffnung. Ich beobachtete, trug Meßergebnisse ein,
rechnete, ich saß vor meinen Blättern, studierte, überlegte, folgerte. Ich kam auf
Dinge, die in meinem Zeitalter weltbewegend gewesen wären — jetzt dienten sie mir nur
dazu, meine Hoffnung zum Wissen zu verdichten. Das Werden der Himmelskörper, der
Kreislauf Masse — Energie, die Ursonne, der Dimensionen-wechsel, die
Entropiepulsation, der Ursprung des Lebens, die Entwicklung der Intelligenz, die
Zwangsläufigkeit der geschichtlichen Abläufe — alles Nebensache. Dann aber fand ich es
bestätigt, und ich konnte auch den Zeitpunkt feststellen: So vielfältig auch die
Kombinationen der Energiequanten und Elementarteilchen sind, da es sich um endlich
viele handelt, ist auch ihre Vielfalt begrenzt. Einmal muß sich jede Konstellation
wiederholen. Einmal mußte es wieder eine Erde geben, wie ich sie verlassen
hatte. Einmal mußte meine Heimat wieder entstehen, das Dorf mit den alten Häusern,
meine ahnungslosen, prächtigen Mitbürger. Einmal, nach einem unvorstellbar langen
Zeitraum. Aber was spielte Zeit für eine Rolle für mich? Ich habe das Schiff so nahe
an die Lichtgeschwindigkeit herangetrieben, daß die Zeit so gut wie stillstand. Ich
mußte nur rechtzeitig mit der Rückstoßbeschleunigung anfangen.
Ich bin heimgekehrt. Ohne Aufsehen. Das Dorf ist wieder da. Die altbekannten
Menschen leben darin. Ich habe es so eingeteilt, daß ich etwa vierzig Jahre nach der
Zeit ankam, zu der ein junger Mann zu den Sternen aufgebrochen ist. Ein junger Mann,
an den ich oft denken muß. Der uns alle um Äonen von Jahren überleben wird. Der jetzt
so einsam ist, wie ich es einmal war.
Ich bin ein alter Mann. Ich rede nicht viel. Ich stehe zeitig auf und sehe, wie
sich die Gassen mit Bewegung füllen. Ich gehe spazieren, in einen warmen Schal
gehüllt, und es lebt um mich herum. Ich sehe zum Fenster hinaus, stundenlang.
Man achtet mich. Man hält mich für etwas seltsam. Aber niemand weiß, wie froh ich
bin. Niemand weiß, wie wertvoll jeder Augenblick ist. Alles mögliche Große wünschen
und erstreben sie. Ich lächle darüber. Wie unwichtig sind die großen Dinge, wie
wunderbar die kleinen.