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Obwohl der Zwischenfall nur wenige Sekunden gedauert hatte, hatte sich das Bild auf der Straße vollkommen gewandelt, als Brenner sich wieder zu Salid herumdrehte. Vor ihnen standen zwei weitere Fahrzeugwracks auf blanken Felgen – ein Feuerwehrwagen und zwei Ambulanzen – und weitere in einer Entfernung von vielleicht dreißig oder vierzig Metern, aber es war kein Mensch mehr zu sehen. Die Straße lag leer und glänzend vor ihnen, aber mit Ausnahme von Salid, Johannes und ihm selbst war alles Leben winzig und vielbeinig und in glänzende Panzer aus schwarzem Horn eingeschlossen.

Salid wollte etwas sagen, aber er kam auch jetzt nicht dazu. Es war noch nicht vorbei. Die Dunkelheit, aus der sie geflüchtet waren, folgte ihnen ein zweites Mal: Rings um sie herum erloschen die Lichter.

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Das Licht war ausgefallen, und die Dunkelheit, die sich im gleichen Moment hinter den Fenstern des Hausflures ausgebreitet hatte, sagte Kenneally, daß es sich nicht nur um eine ausgebrannte Glühbirne handelte. Trotzdem war er überrascht, als er nach einer Sekunde des Zögerns ans Fenster trat und hinausblickte.

Er sah praktisch nichts. Die Straße unter ihm hatte sich in eine schwarze Schlucht ohne Boden verwandelt, und wo die Stadt dahinter sein sollte, breitete sich nur eine gewaltige lichtlose Ebene aus. Und das war einigermaßen beunruhigend. Er befand sich in der dritten Etage, und auf dem Weg hierher hatte er sich seine Umgebung sehr genau eingeprägt: Die gegenüber liegende Straßenseite wurde nur von einer knapp zwei Meter hohen Betonmauer begrenzt, hinter der sich das Krankenhausgelände erstreckte, ein weitläufiger Park mit nur einem einzigen, nicht einmal sonderlich hohen Gebäude, so daß er eigentlich die gesamte Stadt hätte überblicken können müssen. Für die Dunkelheit, die er statt dessen sah, gab es nur eine einzige Erklärung: Der Stromausfall beschränkte sich nicht nur auf dieses Gebäude oder die Straße.

Ein leises Schleifen hinter Kenneally riß ihn aus seinen Gedanken. Blitzartig fuhr er herum und griff in die Tasche, fühlte aber nur das glatte Plastik des Funktelefons. Erst danach fiel ihm wieder ein, daß ihm die Beamten seine Waffe abgenommen hatten. Eine seiner Waffen.

Das Geräusch hatte sich nicht wiederholt, aber Kenneally war zu gut ausgebildet, um sich darauf zu verlassen, daß es nur Einbildung gewesen war oder ein Zufall. Während er konzentriert in die Schwärze hinter sich starrte, ließ er sich langsam in die Hocke sinken, griff nach unten und zog den Revolver, den er in einem Knöchelhalfter am linken Bein trug. Das Klicken, mit dem er den Hahn spannte, klang in der Stille des Hausflures schon fast selbst wie ein Pistolenschuß, aber es war auch ein ungemein beruhigender Laut – auch wenn er insgeheim das Gefühl hatte, daß ihm die Waffe nichts nutzen würde. Trotzdem war ihr Gewicht beruhigend, und sei es nur, weil es etwas Vertrautes war und etwas, was er Zeit seines Lebens mit Sicherheit und Macht assoziiert hatte.

»Ist da jemand?« fragte er – zuerst auf deutsch, denn natürlich war die naheliegendste Vermutung die, daß irgendein vorwitziger Hausbewohner ein Geräusch gehört hatte und herausgekommen war, und dann, als er keine Antwort bekam, noch einmal in seiner Muttersprache.

Das Ergebnis war dasselbe. Niemand antwortete. Niemand konnte antworten, denn er war allein. Seine Augen hatten sich mittlerweile weit genug an das schwache Licht gewöhnt, um den Flur überblicken zu können. Er sah zwar wenig mehr als ein Muster aus geometrischen Schatten, aber darin war kein Platz für einen Menschen. Seltsam … Für einen Moment war das Gefühl, beobachtet zu werden, so stark gewesen, daß es schon fast an Gewißheit grenzte, und normalerweise konnte er sich sehr gut auf sein Gefühl verlassen. Aber ve rmutlich waren seine Nerven auch nicht mehr die besten.

Kenneally zuckte mit den Schultern, machte eine Bewegung, wie um die Waffe in die Jackentasche zu stecken, wechselte sie aber dann nur von der Rechten in die Linke und zog mit der freigewordenen Hand das Telefon hervor, ehe er sich wieder zum Fenster herumdrehte. Sofort wurde das Gefühl, beobachtet zu werden, so intensiv, als berührte ihn etwas zwischen den Schulterblättern. Doch als er sich abermals herumdrehte, war der Flur so leer wie zuvor.

Überhaupt war das Haus unheimlich still. Wirklich bewußt wurde ihm dies vielleicht erst in diesem Moment, aber gespürt hatte er es natürlich schon die ganze Zeit über. Viel zu still. Nach allem, was auf der Straße geschehen war, dem Sirenengeheul, den Stimmen, dem Lärm, dem Motorengeräusch und den Schreien, von den Schüssen und dem Lärm des Hubschraubers kaum einen Block weiter ganz zu schweigen, hätte der Flur voller Menschen sein müssen, die sich neugierig an den Fenstern drängten.

Nichts davon war der Fall. Das Haus schien im Gegenteil wie ausgestorben zu sein. Vielleicht waren alle seine Bewohner geflohen, oder die örtlichen Behörden waren umsichtig genug gewesen, sie zu evakuieren.

Irgend etwas sagte Kenneally, daß dies nicht die Erklärung war, aber er schrak auch zugleich davor zurück, über den wahren Grund der Grabesstille nachzudenken, die von dem schäbigen Wohnhaus Besitz ergriffen hatte.

Vielleicht, weil er dann auch über die Ursache der anderen, viel gewaltigeren Dunkelheit hätte nachdenken müssen, die die Stadt draußen vor dem Fenster verschlungen hatte. Es war nicht allein der Stromausfall – wenn es sich überhaupt um einen solchen handelte. Selbst ohne elektrisches Licht hätte es nicht so dunkel sein dürfen. Am Himmel stand nicht ein einziger Stern, und das, obwohl die Nacht – soweit er sich erinnerte eigentlich wolkenlos gewesen war. Und hätte nicht längst die Dämmerung hereinbrechen müssen?

Kenneally schob den Ärmel zurück und sah auf die Uhr, konnte aber die Stellung der Zeiger in dem praktisch nicht vorhandenen Licht nicht richtig erkennen. Trotzdem eigentlich müßte schon langsam die Sonne aufgehen. Die Wolken, die offensichtlich aufgezogen waren, mußten tatsächlich sehr dicht sein. Allerdings spielte das Wetter seit einigen Tagen ohnehin verrückt.

Wieder hörte er ein leises Rascheln hinter sich, aber diesmal widerstand er dem Impuls, sich herumzudrehen. Er wußte, daß er allein war. Statt dessen klappte er dasTelefon auf, wählte nur mit dem Daumen die vielstellige Nummer, die er früher in dieser Nacht schon einmal gewählt hatte, und lauschte auf das Freizeichen.

Die Satellitenverbindung kam zustande, kaum daß er den Daumen von der letzten Taste gehoben hatte, und diesmal

wußte er, daß derTeilnehmer am anderen Ende der Leitung mit der Hand auf dem Telefonhörer auf seinen Anruf gewartet haben mußte.

»Ist es vorbei?«

Sein Gesprächspartner machte sich nicht die Mühe, sich mit einer Begrüßung oder irgendeiner anderen Floskel aufzuhalten. Kenneally hörte deutlich die Anspannung, die in der Stimme des anderen mitschwang. Er gab sich gar keine Mühe, sie zu verhehlen.

Er antwortete nicht gleich, sondern erst nach zwei oder drei Sekunden, und dieses Zögern allein machte seine Antwort schon beinahe überflüssig. »Nein. Es gab … Schwierigkeiten.« »Das heißt, sie leben noch.«

»Ja«, antwortete Kenneally.

»Sie haben versagt.« In der Stimme war nichts von dem Vorwurf, den die Worte beinhalteten. Sie klang eher resigniert. Trotzdem verteidigte sich Kenneally heftig. »Es war nicht meine Schuld! « sagte er. »Sie haben mir nicht gesagt, womit ich es zu tun habe. Ein halbes Dutzend meiner besten Männer sind tot, und … und ich weiß nicht einmal genau, was passiert ist.« »Was ist passiert?«

»Verdammt, ich weiß es nicht! « wiederholte Kenneally heftig. Es war die Wahrheit. Irgend etwas in ihm sperrte sich noch immer dagegen, die Erinnerungen zu Bildern zu machen. Er hatte ganz deutlich gesehen, was vor dem Haus geschehen war, aber er konnte es einfach nicht formulieren. Nicht in Worten, nicht einmal in Bildern für sich. »Irgend etwas ist aus dem Haus gekommen. Es war nicht Salid oder einer der anderen, aber … «

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