Etwas traf die Tür und riß das Wenige in Stücke, was davon noch übriggeblieben war. Flammen und Rauch erfüllten den Korridor, und der Lärm war so unbeschreiblich, daß Brenner vor Schmerz aufschrie und die Hände gegen die Ohren schlug. Ein Hagel winziger, heißerTrümmer regnete auf Johannes und ihn herab.
Die Druckwelle der Explosion schleuderte Salid nach vorne, aber er stürzte nicht, sondern stolperte ein paar Schritte weit ungelenk dahin, ehe er den Schwung der Bewegung ausnutzte und die Hand nach dem Treppengeländer ausstreckte, um sich daran festzuhalten.
Seine Finger glitten durch das morsche Holz wie durchaufgeweichtes Pappmache. Salid keuchte vor Überraschung, taumelte einen weiteren ungeschickten Schritt nach vorne und verlor nun endgültig die Balance. Aber noch während er stürzte, drehte er sich im Fallen herum und riß die erbeutete Waffe in die Höhe. Ein kurzer, abgehackter Feuerstoß raste über Brenner und Johannes hinweg und stanzte ein Loch in die Flammenwand, die den Eingang verschlungen hatte. Brenner war nicht sicher, aber er glaubte einen Schrei zu hören. Ein weiteres Menschenleben, das sinnlos ausgelöscht worden war. »Lauft! « brüllte Salid. Ach halte sie auf, solange ich kann! « Brenner reagierte ohne eigenes Zutun. Salids Magie funktionierte noch immer: Er gehorchte einfach, nicht nur ohne, sondern eindeutig gegen seinen Willen. Mit der Kraft der Verzweiflung riß er Johannes in die Höhe, warf sich herum und stolperte zwei, drei Stufen weit die Treppe hinauf, während Salid einen weiteren Feuerstoß auf die Tür abgab. Diesmal wurden die Schüsse erwidert. Rechts und links des Palästinensers explodierten winzige Vulkane aus Staub und zerfetztem Holz, aber er selbst schien wie durch ein Wunder auch diesmal nicht getroffen zu werden.
»Weiter!« brüllte er. »Aufs Dach! Vielleicht schießen sie vor Zeugen nicht auf euch! «
Johannes begann sich schwach zu wehren, aber das nahm Brenner gar nicht zur Kenntnis. Unter ihnen explodierte wieder etwas, und diesmal erbebte das gesamte Haus in seinen Grundfesten. Er konnte spüren, wie sich die Treppe wie das Deck eines Schiffes im Sturm zur Seite neigte
– und brach.
Das hieß, brechen war eigentlich nicht das richtige Wort. Er konnte fühlen, wie seine Füße durch das Holz sanken, als hätte es plötzlich seine gesamte Stabilität eingebüßt und die Konsistenz von Morast angenommen. Gleichzeitig begannen sich die Stufen vor ihm auf unmögliche Weise zu verbiegen und zu verzerren. Das Geländer kippte zur Seite, wurde zu einem zuckenden Gummischlauch und zerfiel in Millionen Splitter, und den Bruchteil einer Sekunde später verwandelte sich die gesamte Treppe in eine brodelnde Schräge, in die er haltlos hineinstürzte.
Brenner schrie, schaffte es irgendwie noch, das Gesicht zur Seite zu drehen und die Hände schützend in die Höhe zu reißen, und überschlug sich anderthalbmal in der Luft, ehe er mit denTrümmern derTreppe unten im Hausflur aufschlug. Instinktiv erwartete er einen Aufprall, der der Höhe seines Sturzes entsprach, aber er schien eher auf etwas Weiches und Federndes zu fallen, das unter ihm nachgab und dem Sturz so die schlimmste Wucht nahm. Für einen Moment war er blind. Millionen winzigerTrümmer regneten auf ihn herab, nahmen ihm die Sicht und ließen ihn keuchend nach Atem ringen.
Immerhin hörte er, wie Johannes neben ihm aufschrie und weitere Schüsse fielen; einige ganz in der Nähe, die meisten aber draußen vor dem Haus. Der Boden unter ihm zitterte immer noch, und auch das unheimliches Knistern und Rascheln war noch da, ungleich lauter jetzt sogar.
Mühsam stemmte sich Brenner in die Höhe – was gar nicht so einfach war, denn er war ein gutes Stück weit in den Boden hineingetrieben worden; das morsche Holz hatte unter dem Aufprall seines Körpers nachgegeben, und das war es wohl letztendlich auch gewesen, was ihm das Leben gerettet hatte. Aber seine blind hin und her tastenden Hände fanden auch keinen Halt. Es erging ihm wie Salid gerade: Was immer seine Finger ergriffen, löste sich darunter auf wie ein von der Sonne ausgedörrter Schwamm. Winzige Staubkörnchen rieselten inseine Ärmel, seinen Kragen und den Hosenbund. Es fühlte sich an, als huschten Millionen dürrer Spinnenbeine über seine nackte Haut.
Schließlich gelang es ihm, sich in eine halb sitzende Position hochzustemmen. Er wischte sich Staub und Holzsplitter aus dem Gesicht, blinzelte ein paarmal und sah im ersten Augenblick nichts als durcheinanderstürzende Schatten und Flammenreflexe.
Salid feuerte immer noch. Brenner sah, wie ein weiterer Schatten aus den zuckenden Flammen vor der Tür auftauchte und wie von einem Faustschlag getroffen zurücktorkelte; dann änderte sich das Schußgeräusch: Der Hammer von Salids Waffe schlug mit einem hektischen Klickens ins Leere. Salid fluchte, schleuderte die MPi fort und versuchte hochzuspringen, aber es erging ihm wie Brenner und Johannes gerade auf der Treppe: Die morschen Bodendielen gaben unter seinem Gewicht nach. Er sank bis ans rechte Knie ein, stürzte hilflos nach vorne und versuchte sich abzufangen; mit dem Ergebnis, daß nun auch seine Hände bis über die Gelenke in den Boden einsanken. Ein Ausdruck fassungsloser Verblüffung breitete sich auf den Zügen des Palästinensers aus – und schlug urplötzlich in jähes Entsetzen um.
Zwei weitere Männer sprangen geduckt durch den Feuervorhang vor der Tür, und diesmal wäre Salids Reaktion wohl selbst dann zu spät gekommen, wenn er noch eine Waffe gehabt hätte. Einer der beiden ließ sich blitzschnell zur Seite fallen und eröffnete gleichzeitig das Feuer auf Salid; der zweite sank auf ein Knie herab und legte auf Brenner an.
Eine Sekunde darauf waren sie verschwunden.
Es ging so schnell, daß Brenner nicht einmal wirklich Zeit fand zu erschrecken: Der Angreifer, der auf ihn angelegt hatte, stieß einen gellenden Schrei aus und brach durch den Fußboden, der unter seinem Gewicht einsackte, um Meter tiefer auf dem Kellerboden aufzuschlagen; der andere beendete seine Seitwärtsrolle noch und wurde von der Wand verschlungen.
Sie gab nicht etwa nach oder brach unter seinem Anprall zusammen. Beides wäre erstaunlich gewesen, aber nach dem, was Brenner bisher gesehen hatte, noch irgendwie zu verstehen.
Was er nun sah, nicht.
Die Wand verschluckte ihn. Der scheinbar massive Stein teilte sich entlang einer schnurgeraden, meterlangen Linie unmittelbar über dem Kopf des Mannes, und etwas Schwarzes, Glitzernd-Körniges ergoß sich wie ein Strom aus brodelndem Morast über den Mann. Er fand nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen. Das schwarze Wogen packte ihn, riß ihn in die Höhe und zerrte ihn in die Wand hinein.
Das Gefühl des dejä-vu und das Begreifen dessen, was er jetzt sah, kamen gleichzeitig. Es war keine Einbildung gewesen. Der Mann, dessen Gesicht verschwunden war, war wirklich dagewesen. Und er bildete sich auch nicht nur ein, das Huschen und Tasten zahlloser winziger Spinnenbeine auf der Haut zu fühlen …
Und plötzlich sah er zum erstenmal, was wirklich rings um sie herum geschah.
Das gesamte Haus war zum Leben erwacht. Schwarzem, gepanzertem, vielbeinigem Leben, Leben mit glitzernden Facettenaugen und winzigen schnappenden Kiefern, mit haarigen Beinen und zuckenden Antennen, das die Treppe gefressen hatte, die Wände aushöhlte und den Boden, das kroch, krabbelte, fraß …
Brenner schrie. Es war kein menschlicher Laut mehr, sondern ein überschnappendes Kreischen, in dem alles Entsetzen lag, das er aufbringen konnte. Er sprang in die Höhe, taumelte gegen eine Wand, die weich wie Gummi war und warm und lebendig und schlug wie von Sinnen um sich. Er kreischte, schrie, brüllte. Seine Hände fuhrwerkten wie wild in der Luft herum, kratzten durch sein Gesicht und schlugen nach den winzigen krabbelnden Ungeheuern, fetzten Haut und zerbrechendes Chitin beiseite, zerrten an seinen Kleidern. Ein unbeschreibliches Ekelgefühl hatte von ihm Besitz ergriffen.