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Jemand schrie etwas. Heidmann drehte sich herum und sah eine Gestalt in einer leuchtendroten Jacke auf sich zueilen, wobei sie heftig mit den Armen gestikulierte. Es war der Arzt. Er schien ihn nicht zu erkennen oder hielt ihn womöglich für Kenneally oder einen seiner Männer, denn auf seinem Gesicht hatte sich ein Ausdruck fast heiligen Zorns breitgemacht. Er stürmte mit wütend vorgereckten Schultern heran – und blieb so abrupt stehen, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Ein Ausdruck so komischer Fassungslosigkeit breitete sich auf seinem Gesicht aus, daß Heidmann unwillkürlich lächeln mußte. »Was …?« stammelte er. Seine Augen weiteten sich. »Aber … aber das ist doch … «

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Heidmann lächelnd. »Es ist alles in Ordnung.« Und damit drehte er sich herum und verschwand mit langsamen Schritten in der Nacht. Niemand versuchte ihn aufzuhalten.

Seit ihrem unfreiwilligen Umzug in das andere Zimmer waren allerhöchstens fünf Minuten vergangen, aber Brenner hatte das Gefühl, es wären Stunden. Sie hatten nicht mehr viel geredet. Wenn Salid die Wahrheit gesagt hatte, was den geheimen Kampfstoff betraf, dann hatten die Männer, die dort draußen auf sie warteten, einen triftigen Grund mehr, dafür zu sorgen, daß sie mit niemandem mehr reden konnten.

Trotzdem kam ihm ihre Situation beinahe absurd vor. Er wußte nicht einmal genau, in welcher Stadt sie sich befanden, aber es war eine Stadt. Eine Stadt mit Tausenden, vielleicht Zehntausenden von Menschen. Sie konnten hier nicht einfach einen Krieg anfangen, nur um einen einzigen Mann zur Strecke zu bringen. Und zugleich war diese ungeheuerliche Vorstellung Brenners einzige Hoffnung. Ganz gleich, welche Macht diese Männer dort draußen hatten, wie viele Waffen sie besaßen und wie entschlossen sie waren, sie konnten diese Belagerung nicht ewig durchhalten. Mit jeder Sekunde, die verstrich, ohne daß sie zum endgültigen Sturm auf das Haus ansetzten – oder es kurzerhand in die Luft sprengten, nicht einmal mehr das schloß Brenner mittlerweile aus – , stiegen ihre Chancen, daß jemand kam und dem ganzen Spuk ein Ende bereitete.

Salid stand auf und trat ans Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen. Das hatte er in den letzten fünf Minuten mindestens ebenso oft getan wie Brenner. Ebenso wie er hatte er vermutlich dort unten nichts anderes gesehen als die schwarzen Schatten des an allen Seiten von Mauern umschlossenen Innenhofes, auf den das Fenster hinausführte.

»Ich verstehe nicht, wo sie bleiben«, sagte Johannes. »Sie hätten längst hier sein können. «

»Sie werden schon früh genug kommen«, antwortete Salid, ohne sich vom Fenster herumzudrehen. »Keine Sorge.« Er lachte leise und nicht sehr humorvoll. »Wenn es losgeht, bleibt immer dicht bei mir. Ganz egal, was passiert und was ich tue.« »Und was wollen Sie tun?« fragte Johannes.

Es war nicht das erste Mal, daß er diese Frage stellte, aber er bekam auch jetzt keine Antwort. Salid drehte sich nur vom Fenster weg, sah zuerst Brenner einen Moment und dann Johannes einen längeren Augenblick an und verzog dann die Lippen zu etwas, von dem er vielleicht glaubte, daß es ein zuversichtliches Lächeln war. Johannes wiederholte seine Frage nicht, aber zumindest Brenner war sicher, daß Salid keinen Plan hatte. Sie saßen in der Falle. Vielleicht vertraute Salid einfach auf sein Glück; vielleicht war es auch immer seine Art gewesen, niemals einen Plan zu haben, sondern immer aus der Situation heraus zu agieren. Wäre er mit dem Palästinenser allein gewesen, hätte er eine entsprechende Frage gestellt, aber Johannes' Anwesenheit hielt ihn davon ab. Auf eine gewisse Weise war ihm Johannes' Verhalten noch rätselhafter als das Salids. Vorhin, als sie tatsächlich und unmittelbar in Gefahr gewesen waren, hatte Johannes so präzise und gut reagiert, als wäre er der Kampferfahrene von ihnen; jetzt benahm er sich so, als wolle er das Klischee vom weltfremden, sanftmütigen – und ein bißchen feigen – Geistlichen mit aller Gewalt unter Beweis stellen.

Ein leises Rascheln ließ ihn aufsehen. Das Geräusch war nicht sehr deutlich, und es fiel ihm schwer, die Richtung festzustellen, aus der es kam, aber es hielt an. Und er war nicht der einzige, der es hörte. Auch Salid legte den Kopf schräg und lauschte, zuckte aber nach einigen Augenblicken mit den Achseln und drehte sich wieder zum Fenster herum.

»Was ist?« fragte Johannes erschrocken.

»Nichts«, antwortete Brenner. Das Geräusch war immer noch da, hatte aber vermutlich nichts zu bedeuten. Es war ein altes Haus, in dem es wahrscheinlich unentwegt irgendwo knisterte und knackte.

»Ich glaube, sie kommen«, sagte Salid plötzlich.

Johannes sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, und auch Brenner sah mit einem Ruck hoch.

»Wo?« fragte Johannes.

Salid zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht sicher«, murmelte er. Seine Hände schlossen sich fester um die Waffe, und Brenner sah, daß sein Zeigefinger nervös über den Sicherungshebel strich, ihn aber noch nicht umlegte. »Aber ich glaube, ich habe dort unten etwas gesehen.«

Er drehte sich mit einem plötzlichen Ruck vom Fenster weg, ging zur Tür und machte dabei eine Geste zu Johannes und Brenner, zurückzubleiben. Unendlich behutsam und ohne den mindesten Laut öffnete er sie einen Spalt breit, lauschte einen Moment hinaus und schob die Tür dann weiter auf. Er ging dabei leicht in die Hocke und richtete den Lauf der Maschinenpistole schräg nach oben, um auf alles zu schießen, was sich draußen vielleicht rührte. Wieder lauschte er Sekunden. Als draußen alles still blieb, öffnete er die Tür völlig und richtete sich wieder auf.

Brenner sah, wie er erschrocken zusammenfuhr und mitten in der Bewegung erstarrte. »Was ist?! « fragte er alarmiert. Salid machte eine hastige Bewegung mit der freien Hand, still zu sein, trat dann einen weiteren Schritt aus dem Zimmer hinaus und drehte sich blitzschnell nach rechts und dann nach links.

Brenner hielt das Warten nicht mehr aus. Ohne sich darum zu scheren, was Salid davon halten würde, stand er auf und folgte ihm auf den Korridor hinaus. »Was ist los?« fragte er.

Salid machte erneut eine hastige Bewegung, still zu sein, deutete aber in der gleichen Geste zurTreppe hin, und Brenner sah fast sofort, was er meinte. Der Flur war leer. Die drei reglos daliegenden Gestalten, die er das letzte Mal gesehen hatte, als er auf den Gang hinausblickte, waren nicht mehr da.

Salid legte warnend den Zeigefinger auf die Lippen, hob die Waffe in der rechten Armbeuge und bewegte sich geschmeidig wie eine Katze auf die Tür auf der gegenüber liegenden Gangseite zu. Er verschwand für einige Sekunden in dem dahinterliegenden Zimmer, tauchte aber fast sofort wieder auf und gestikulierte Brenner erneut, still zu sein und wieder ins Zimmer zurückzugehen. Ebenso schnell und geschickt wie gerade näherte er sich auch der zweiten und drittenTür auf dem Gang und untersuchte die dahinterliegenden Räume. Als er das Zimmer unmittelbar an derTreppe betrat, hielt Brenner instinktiv den Atem an. Doch Salid kam auch jetzt nach wenigen Augenblicken wieder heraus und mit raschen Schritten zu ihm zurück.

»Es ist niemand da«, sagte er in nachdenklichem, fast verblüfftemTon.

»Aber das ist doch unmöglich.« Johannes war ihnen gefolgt und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf den Flur hinaus, und er sprach weitaus lauter als Brenner für angemessen hielt.

Salid zuckte mit den Schultern. »Sie müssen aufgewacht sein«, sagte er. »Ich verstehe nur nicht, warum sie nicht versucht haben, uns zu überwältigen.«

»Und … derTote?« fragte Brenner.

Salid hob abermals die Schultern. »Wahrscheinlich haben sie ihn mitgenommen. Vielleicht war er auch nicht tot. Ich habe auf ihn geschossen, aber möglicherweise habe ich ihn nur verwundet.«

»Das meine ich nicht«, sagte Brenner. Er deutete auf den Raum, den Salid als letzten durchsucht hatte. »Was ist mit dem Mann dort drinnen?«

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