»Was ist hier los?« fragte er herrisch. »Was soll dieser Lärm? Wir sind hier in einem Krankenhaus, nicht auf dem Bahnhof! « Sein Blick glitt auf eine schon fast berufsmäßig herablassende Weise über die Gesichter der beiden Pfleger und des Hausmeisters und konzentrierte sich dann auf den Mann im Priesterkragen. Über seinem Brillengestell erschienen drei tief eingegrabene, parallel verlaufende Falten, die ihm mit einem Male das Aussehen eines mißgelaunten Dackels gaben.
»Sie sind ziemlich hartnäckig, wie?« fragte er.
»Ich habe Ihnen gesagt«, begann der andere, »daß – «
»Und ich habe Ihnen gesagt«, unterbrach ihn der Arzt zornig, »daß ich Sie hier nicht mehr sehen will. Ich dachte, ich hätte mich deutlich genug ausgedrückt. Was Sie hier tun, ist illegal. Man könnte es als Einbruch auslegen. Zumindest aber als Hausfriedensbruch.«
»Soll ich die Polizei rufen?« erkundigte sich der Pförtner. Der Arzt tat so, als müsse er einen Moment über die Antwort nachdenken, aber Salid las in seinen Augen, daß er diese Frage längst entschieden hatte. »Nein«, sagte er. »Wenigstens noch nicht. Sie können wieder auf Ihren Posten gehen.«
Er wartete ganz genau ab, bis sich der Pförtner herumgedreht und einen Schritt in Salids Richtung getan hatte, dann fügte er mit leiser, aber eisiger Stimme hinzu: »Und ich wäre Ihnen äußerst verbunden, wenn Sie Ihre Arbeit in Zukunft etwas gewissenhafter verrichten würden. Offensichtlich kann hier in letzter Zeit jeder hinein-und herausspazieren, wie es ihm gerade gefällt. «
Der Pförtner zog den Kopf zwischen die Schultern und war klug genug, nichts mehr zu sagen, und Salid wich hastig wieder ins Treppenhaus zurück. Lautlos huschte er zwei Stufen nach oben und wartete. Er war sicher, daß der Mann diesmal nicht dieTreppe benutzen würde. Er war körperbehindert; kein Krüppel, aber doch jemand, dem Treppensteigen gewiß Mühe bereitete.
Seine Rechnung ging auf. Nach ein paar Sekunden schlurfte ein gebückter Schatten an der Milchglasscheibe vorbei, und kurz darauf hörte er das Geräusch der Aufzugtüren. Salid kehrte wieder in den Korridor zurück, wandte sich jedoch nicht sofort nach links, sondern sah sich rasch und mit geschultem Blick um.
Er war in genug Krankenhäusern auf der ganzen Welt gewesen, und irgendwie glichen sie sich alle, so daß er fast auf Anhieb fand, wonach er suchte. Lautlos huschte er über den Flur, öffnete die Tür zur Wäschekammer und schlüpfte hindurch, ohne Licht zu machen.
Diesmal hatte er Pech. In den Regalen stapelten sich bis unter die Decke Handtücher, Bettwäsche und Wolldecken, aber keine Kittel. Nach kurzem Suchen entdeckte er jedoch einen unordentlich zusammengeknüllten blauen Morgenmantel, den irgend jemand auf ein Regalbrett geworfen und dort vergessen hatte. Salid schlüpfte aus der Jacke, zog den Morgenrock über und zerwühlte sich mit gespreizten Fingern das Haar. Keine besonders gute Tarnung, aber wenn man nicht zu genau hinsah, dann mochte er als Patient durchgehen, der sich verlaufen hatte.
Sorgfältig kontrollierte er dieTaschen seiner Lederjacke, um nichts zurückzulassen, das auf ihn hindeutete, versteckte sie auf dem obersten Regalbrett und ging dann wieder zur Tür. Er konnte die Szene hinter der Gangbiegung von hier aus nicht sehen, wohl aber hören. Die Stimme des Arztes sagte gerade: »… es nach mir ginge, säßen Sie jetzt schon in einem Polizeiwagen und könnten anderen erklären, was Sie hier zu suchen haben. «
»Geht es denn nicht nach Ihnen?« fragte der andere.
Ara Prinzip schon. Aber es sieht so aus, als hätten Sie Glück.«
»Ich kann mit ihm reden?«
»Brenner?« Salid konnte das Kopfschütteln des Arztes regelrecht hören. »Nein. Aber wenn Sie gekommen sind, um mit jemandem zu reden – das können Sie haben. Ich bin nur nicht sicher, ob es Ihnen gefallen wird … Wie ist es? Sind Sie vernünftig, oder muß ich die beiden Pfleger weiter von ihrer Arbeit abhalten und Sie bewachen lassen?«
»Kaum.«
»Das will ich hoffen. Meine Geduld hat Grenzen, wissen Sie? Und die sind fast erreicht. Sie können dann gehen, meine Herren. Aber bleiben Sie bitte in Bereitschaft – nur falls unser Gast es sich doch anders überlegt und nicht vernünftig ist.«
Salid drückte die Tür zu, ließ das Schloß aber nicht einrasten, um kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Schritte näherten sich, passierten die Tür und wurden in veränderter
Tonlage wieder leiser, und er hörte gedämpfte Stimmen, konnte die Worte durch das Holz hindurch jedoch nicht mehr verstehen. Ungeduldig wartete er darauf, das Geräusch der Aufzugtüren wieder zu hören, aber es blieb aus.
Salid fluchte lautlos in sich hinein. Eine gute Minute verging, aber draußen rührte sich nichts – bis auf die Stimmen der beiden Pfleger, deren gedämpftes Murmeln weiter durch dieTür drang. Die Männer standen entweder immer noch vor dem Lift und warteten darauf, daß die Kabine kam, oder sie taten sonst was, aber sie waren eindeutig noch da. Seine linke Hand, mit der er noch immer mit aller Kraft den Griff herunter und die Tür gleichzeitig zudrückte, begann sich allmählich zu verkrampfen, und für eine n Moment hatte er plötzlich das bizarre Gefühl, regelrecht spüren zu können, wie die Zeit langsamer lief.
Und noch etwas.
Das Gefühl war noch verrückter, aber ebenso intensiv, und vielleicht gerade weil es so völlig absurd war, zugleich auch so real. Er spürte mit einem Mal, daß er nicht mehr allein in der Wäschekammer war.
Etwas war hier.
Jemand.
Salids Herz begann mit schweren, aber unregelmäßigen Stößen zu pumpen. Das Metall des Türgriffs in seiner Hand schien mit einem Male so kalt zu werden, daß es wie Feuer auf der Haut brannte. Irgend etwas starrte ihn an. Es war nicht nur ein Gefühl. Es war ein Blick, dessen Berührung er körperlich spüren konnte, so, wie plötzlich auch die Anwesenheit von etwas – jemand – Fremdem wie etwas Stoffliches zu spüren war, mit einer Intensität, die ihm fast Schmerzen bereitete.
Er war da.
Der Verfolger wartete nicht, bis er zu ihm kam, wie er sich eingeredet hatte. Er war hier, und wahrscheinlich war er die ganze Zeit in seiner Nähe gewesen und hatte ihn beobachtet: ein unsichtbarer Schatten, vielleicht auch ein lautloser
Beobachter in seinen Gedanken, der über jeden seiner Schritte Bescheid gewußt hatte, noch bevor er ihn tat. Hatte er sich wirklich eingebildet, ihn besiegen zu können? Das war lächerlich. Was konnte er gegen ein Wesen wie dieses schon ausrichten?
Salid schloß stöhnend die Augen, aber er sperrte die Dunkelheit damit nicht aus, sondern verbannte sie nur hinter seine Lider, und das machte es fast noch schlimmer. Er hatte keine Angst; nicht um sich und nicht in diesem Moment. Irgend etwas sagte ihm, daß das Ding, das unsichtbar hinter ihm stand, nicht gekommen war, um ihn zu töten. Das hätte es längst gekonnt; schon vor dreiTagen an jenem Morgen im Wald und vermutlich in jeder einzelnen Sekunde, die seither vergangen war. Es war hier, um etwas viel Grausameres zu tun: Es demonstrierte ihm seine Machtlosigkeit. Alles, was er tat, alles, was er plante und dachte, war zum Scheitern verurteilt. Er hatte sich in Dinge gemischt, die zu groß für ihn waren, wie ein Mann, der versuchte, eine Springflut mit bloßen Händen aufzuhalten. Das war die Botschaft, die der lautlose Schatten ihm überbrachte. Er konnte ebensogut aufgeben, die Kammer verlassen und sich den beiden Männern dort draußen stellen.
Aber Salid wäre nicht Salid gewesen, hätte er aufgegeben; nicht einmal jetzt. Statt zu tun, was ihm die Stimme seiner Furcht zuflüsterte, drehte er sich herum und starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit hinter sich.
Er war allein, aber das intensive Empfinden einer anderen, schattenhaften Präsenz wurde eher noch stärker, nicht schwächer. Irgend etwas war mit ihm hier drinnen in der Dunkelheit. Salid riß die Augen auf, bis sie zu tränen begannen, und versuchte die Schwärze mit Blicken zu durchdringen, und als ihm das nicht gelang, die Dunkelheit hinter dieser Schwärze, die Barriere, die die Welt des Wirklichen von der des Unfaßbaren trennte. Keines von beidem gelang, aber die bloße Konzentration half ihm trotzdem, wieder ein Stückweit in die Wirklichkeit zurückzufinden.