Литмир - Электронная Библиотека
A
A

»Das … das ist monströs«, flüsterte er. Das Gespräch war so absurd wie dasThema, um das es ging: zwischen Frage und Antwort lagen mehr als fünf Minuten, und sie kamen nicht immer in der richtigen Reihenfolge. »Was Sie da erzählen, ist … « Er brach ab. Eine Minute später sagte Adrianus:

»Vielleicht haben Sie recht, Kenneally. Aber es ist nun einmal geschehen. Und es war richtig. Wir wären alle nicht hier, wenn sie ihn damals nicht eingekerkert hätten.«

»Und was haben Sie davon?« fragte Kenneally lahm. Er mußte seine Zunge zwingen, sich zu bewegen. Die geistige Paralyse, die Adrianus' Eröffnung in ihm ausgelöst hatte, schien eine körperliche Lähmung nach sich zu ziehen, die erst mit einiger Verspätung einsetzte. »Er wird uns alle vernichten. Womit soll ich ihn aufhalten? Damit?

Er hielt das Gewehr mit beiden Händen in die Höhe und schüttelte es so wild, daß Adrianus ganz instinktiv ein kleines Stück auf dem Sitz nach hinten wich. Die Heftigkeit seiner Reaktion überraschte ihn selbst. Und er verstand sie nicht. Er glaubte nichts von dem, was Adrianus erzählte. Gott und Teufel, Jesus und Beelzebub, dieser ganze religiöse Humbug … das war … Aberglaube. Ein Überbleibsel aus einer Welt, die so überholt war wie Adrianus selbst.

Und trotzdem zweifelte er keinen Moment daran, daß es die Wahrheit war.

»Ich habe Ihnen nicht versprochen, daß es gelingt«, erinnerte Adrianus. »Ich habe Ihnen nicht einmal versprochen, daß Sie es überleben. Aber wir müssen es versuchen. Es ist uns schon einmal gelungen, ihn aufzuhalten.«

»Und was haben Sie davon gehabt?« fragte Kenneally. »Zeit«, antwortete Adrianus ernst. »Zweitausend Jahre, Mr. Kenneally. Für uns. Für uns alle. Und vielleicht gelingt es noch einmal, eine Gnadenfrist herauszuschinden. Wir müssen es versuchen. «

Kenneally schüttelte den Kopf. »Es ist reizend, daß Sie immer wir sagen«, murmelte er.

»Ich würde es selbst tun«, antwortete Adrianus. »Ich kann nicht schießen.«

Das war ein so simpler Grund, daß Kenneally ihn vorbehaltlos akzeptierte. Außerdem wollte er nicht mehr widersprechen. Er wollte überhaupt nicht mehr reden. Worte erschienen ihm plötzlich so sinnlos. Er legte das Gewehr wieder quer über seine Knie und begann erneut, mit den Fingerspitzen über das Metall zu streichen.

Zeit verging. Die Uhren waren stehengeblieben, aber die Sekunden strichen trotzdem fast hörbar an der Maschine vorbei. Die Frist, von der Adrianus gesprochen hatte, mußte längst vorüber sein. Möglicherweise waren sie ja schon zu spät. Vielleicht hatten Salid und die beiden anderen ihr Ziel ja schon erreicht gehabt, lange bevor sie hier ankamen, und die Dinge, die sie aufhalten wollten, hatten längst begonnen.

Ein leises Piepsen erklang. Adrianus griff in die Jackentasche, zog ein kleines Sprechgerät hervor und meldete sich. Er lauschte kaum länger als eine Sekunde, dann sagte er: »In Ordnung. Starten Sie.«

»Sind sie da?« fragte Kenneally.

»Sie kommen.« Adrianus nickte zur Bestätigung und deutete in der gleichen Bewegung auf das Gewehr über Kenneallys Knien. »Machen Sie sich bereit. Sie werden nicht viel Zeit haben.«

Er hatte alle Zeit der Welt. Kenneally war ein guter Schütze. Er traute sich durchaus zu, auch aus einem fliegenden Helikopter heraus einen Mann zu treffen, vor allem mit einer halbautomatischen Waffe wie dieser. Aber er hatte nicht vergessen, was das Smith-Ding zu ihm gesagt hatte: Der Mann, der dich richten wird. Er würde Salid nicht töten. Salid würde ihn töten. Er wußte es. Der Insektenmann hatte es gesagt.

Trotzdem stand er auf, ging zurTür und schob sie auf. Über ihren Köpfen begannen sich die Rotorblätter zu drehen, und die ganze Maschine begann sacht zu zittern, das war alles. Selbst als der Helikopter abhob, hatte er kaum das Gefühl, sich in einem Flugzeug zu befinden. Der Boden schien vielmehr nahezu lautlos unter ihnen in dieTiefe zu gleiten, gefolgt von den Schatten der niedergebrannten Klostermauern, zwischen denen sie gewartet hatten. Kenneally ließ sich langsam auf das rechte Knie herabsinken, stützte den Ellbogen auf den Oberschenkel und setzte das Gewehr an die Schulter.

»Ich bete für Sie«, sagte Adrianus. Das war vielleicht der Gipfel der Absurdität – und so ganz nebenbei etwas, das Kenneally vollkommen gleichgültig sein konnte – , und trotzdem wirkten die Worte sonderbar beruhigend. Alles war

durcheinander, auf den Kopf gestellt und ins Gegenteil verkehrt. Kenneally, ausgerechnet er, der überzeugte Atheist, war plötzlich zu einem Krieger in der letzten der biblischen Schlachten geworden. Später, so nahm er sich vor – wenn es ein Später für ihn geben sollte, würde er herzhaft über diesen obskuren Scherz des Schicksals lachen.

Er schaltete die mit einem Nachtsichtgerät gekoppelte Laser-Zieleinrichtung des Gewehrs ein und preßte das linke Auge gegen die Optik, während der Helikopter, der seinen Steigflug mittlerweile beendet hatte, eine Neunzig-Grad-Drehung in der Luft vollführte und der Waldrand unter ihnen in Sicht kam. In dem grüngefärbten Panorama, das sich seinem Blick bot, sah der verschneite Wald aus wie eine Aufnahme aus einem Science-Fiction-Film, unwirklich und mit zu harten, falschen Konturen. Trotzdem konnte er die drei Gestalten, die hintereinander auf dem verschneiten Waldweg herankamen, so deutlich erkennen, als stünden sie auf Armeslänge vor ihm.

»Los! « sagte er.

Adrianus mußte seinen Befehl unmittelbar weitergegeben haben, oder der Pilot hörte ihre Gespräche mit, denn der Helikopter machte einen regelrechten Satz nach vorne und begann mit unglaublicher Schnelligkeit zu beschleunigen. Kenneally korrigierte die Richtung des Gewehrlaufes um eine Winzigkeit, zielte auf die erste der drei Gestalten – der Mann war als einziger bewaffnet, und Kenneally vermutete, daß es Salid war. Der Mann, der dich richten wird. Das Gewehr ruckte kaum spürbar in seiner Hand und stieß eine Salve von zehn oder fünfzehn Geschossen aus. Er hatte gut gezielt, aber der Helikopter schien sich doch stärker zu bewegen, als ihm bewußt war: die Salve verfehlte Salid knapp und ließ den Schnee vor seinen Füßen explodieren.

Der Terrorist reagierte so schnell, wie Kenneally erwartet hatte: Er warf sich blitzschnell zur Seite und landete mit einer eleganten Rolle im Schnee; gleichzeitig versuchte er seine eigene Waffe in Anschlag zu bringen, um zurückzuschießen. Normalerweise hätte Salid es nicht einmal beachtet. Nach einer solchen Aktion und aus Salids Position heraus einen Mann in einem fliegenden Hubschrauber zu treffen war praktisch unmöglich. Aber er hatte in den letzten Stunden eine Menge Dinge erlebt, die eigentlich unmöglich waren, und Smith' Stimme – Der Mann, der dich richten wird. Der Mann, der dich richten wird. Der Mann, der … – schien mittlerweile ununterbrochen in seinem Kopf zu widerhallen, so daß er erschrocken zurückprallte und eine Sekunde lang so intensiv auf den Schmerz des Treffers wartete, daß er ihn tatsächlich schon fühlte.

Nichts geschah. Der Helikopter stieß weiter auf die drei einsamen Gestalten im Wald herab. Salid lag auf dem Bauch im Schnee und zielte nicht einmal auf ihn, sondern schien irgendwelche Schwierigkeiten mit seiner Waffe zu haben, und die beiden anderen standen einfach da und starrten dem herannahendenTodesboten entgegen, ohne sich zu rühren.

Kenneally fluchte lautlos in sich hinein. Er schätzte, daß ihm noch zwei, allerhöchstens drei Sekunden blieben, bis sie über die Männer hinweg waren und der Pilot eine Schleife fliegen mußte, um zu einem neuen Angriff anzusetzen; eine Aktion, die sicher ebenfalls nur Sekunden in Anspruch nahm, Salid aber dann garantiert Zeit und Gelegenheit zu einem sicheren Schuß gab. Salid würde er nicht mehr erwischen. Dazu waren sie bereits zu nahe. Er zielte auf eine der beiden anderen Gestalten und zog den Abzug durch.

Einen Sekundenbruchteil, bevor die Waffe die zweite Salve ausspie, setzte der Motor des Helikopters aus. Die Maschine bockte, wie ein Wagen, dessen Fahrer von der Kupplung abgerutscht war, und die Schüsse verfehlten ihr Ziel undzerfetzten nur einige Äste, meterweit hinter dem Mann am Waldrand. Kenneally nahm den Finger vom Abzug.

113
{"b":"124793","o":1}