Bolitho blickte seinen Bruder an und empfand Mitleid mit ihm. Aber es gab keinen anderen Ausweg.
Als die beiden Gäste nacheinander das Haus verlassen hatten, stieß Hugh heftig hervor:»Wenn ich auch nur einen einzigen von diesen Schuften in meiner Gewalt hätte, dann wäre die ganze verdammte Affäre ein für allemal erledigt!«Die nächsten beiden Tage vergingen in Sorge und Ungewißheit. Von Dancers Entführern hatte man nichts mehr gehört, und in der Tat bedurfte es keines weiteren Beweises für die Echtheit des Briefes. Ein paar goldene Knöpfe, von einer Fähnrichsuniform abgeschnitten, sowie ein Halstuch, das Bolitho als Dancer gehörend identifizierte, hatte man vor dem Gartentor gefunden. In der zweiten Nacht saßen die beiden Brüder allein vorm Feuer; keiner mochte das Schweigen brechen. Schließlich sagte Hugh:»Ich gehe hinunter zur Avenger. Du bleibst besser hier, bis wir etwas hören.»
«Was wirst du danach anfangen?»
«Anfangen?«Hugh lachte bitter.»Wieder auf ein verdammtes Dickschiff als Leutnant gehen, denke ich. Meine Beförderung ist aus dem Fenster geflogen, als ich das nicht schaffte, weswegen ich hergekommen war.»
Bolitho erhob sich, weil er Hufgeklapper vor dem Haus hörte. Die Tür flog auf, und er sah Mrs. Tremayne ihn mit so großen Augen austarren, daß sie ihr ganzes Gesicht auszufüllen schienen.
«Sie haben ihn, Master Richard! Sie haben ihn gefunden!«Im nächsten Augenblick schien der Raum überfüllt zu sein: Bedienstete, Dragoner und Pendrith, der sagte:»Die Soldaten haben ihn entdeckt, wie er auf der Straße herumirrte, mit auf dem Rücken gefesselten Händen und einem Tuch vor den Augen. Ein Wunder, daß er nicht kopfüber die Klippen hinabstürzte!«Sie verstummten alle, als Dancer, von Kopf bis Fuß in einen langen Umhang gehüllt, ins Zimmer trat, auf beiden Seiten gestützt von einem Dragoner.
Bolitho lief ihm entgegen und packte ihn an den Schultern. Er konnte kaum sprechen; beide starrten sich ein paar Sekunden lang wortlos an, bis Dancer sagte:»Das war verdammt dicht dran diesmal, Dick!»
Harriet Bolitho bahnte sich einen Weg durch die starrenden Menschen, nahm Dancer den Umhang ab und schloß ihn dann in die Arme. Sie zog seinen Kopf an ihre Schulter, wobei ihr die Tränen ungehemmt über die Wangen liefen.»Oh, du armer, armer Junge!»
Die Entführer hatten Martyn alle Sachen abgenommen, bis auf die Kniehose. Barfuß, mit verbundenen Augen und gefesselten Händen, hatten sie ihn auf einer ihm unbekannten Straße ausgesetzt, wo er in der bitteren Kälte bei einem Sturz sicherlich erfroren wäre. Jemand hatte ihn auch geschlagen, denn Bolitho sah Striemen auf seinem Rücken.
Mrs. Bolitho sagte mit belegter Stimme:»Mrs. Tremayne, führen Sie diese braven Männer in die Küche. Geben Sie ihnen alles, was sie möchten, auch Geld.»
Die Soldaten strahlten und traten sich verlegen die Stiefel sauber.»Danke sehr, Ma'am, es war uns ein Vergnügen, wirklich!«Dancer ließ sich vor dem Feuer nieder und erzählte:»Sie brachten mich in ein kleines Dorf. Ich hörte jemanden sagen, es sei ein verhexter Ort, niemand würde sich herwagen, um nach mir zu suchen. Sie lachten darüber und erklärten mir, auf welche Weise sie mich umzubringen gedächten, wenn ihr Mann nicht freigelassen würde. «Er blickte zu Hugh Bolitho auf.»Tut mir leid, daß ich Sie enttäuscht habe, Sir. Aber unsere Angreifer sahen aus wie wirkliche Soldaten, und sie schlugen erbarmungslos auf uns ein, bevor wir unseren Irrtum erkannt hatten. «Schaudernd rieb er sich die Arme, als schäme er sich seiner Nacktheit.
Hugh erwiderte:»Was geschehen ist, ist geschehen, Mr. Dancer. Aber ich freue mich, daß Sie am Leben und in Sicherheit sind. «Mrs. Bolitho brachte eine Tasse heißer Suppe.»Trink das, Martyn, und dann ins Bett. «Sie hatte sich wieder vollkommen in der Gewalt.
Dancer blickte Bolitho an.»Ich hatte die ganze Zeit das Tuch über den Augen. Als ich versuchte, es wegzureißen, fühlte ich ein glühendes Eisen dicht vorm Gesicht. Einer von ihnen sagte, wenn ich es noch einmal täte, wäre das Tuch nicht mehr nötig. Das Eisen würde mich blenden, ein für allemal. «Er fröstelte, als Nancy seine Schultern mit einem wollenen Tuch bedeckte.
Hugh Bolitho schlug mit der Faust gegen die Wand.»O ja, sie waren schlau. Sie wußten, daß Sie zwar ihre Gesichter nicht erkennen würden, wohl aber später vielleicht den Ort, an dem man Sie festgehalten hatte.»
Dancer erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. Seine Füße waren arg zugerichtet worden, bevor die Soldaten ihn gefunden hatten.
«Ich kenne aber einen von ihnen.»
Sie starrten ihn alle an und dachten, er werde gleich zusammenbrechen.
Dancer hielt Mrs. Bolitho seine ausgestreckten Hände hin, bis sie sie ergriff.
«Es war am ersten Tag. Ich lag in der Dunkelheit und wartete auf den Tod, als ich die Stimme plötzlich hörte. Wahrscheinlich hatten sie ihm nicht gesagt, daß ich dort war. «Er verstärkte den Griff seiner Hände.»Es war der Mann, den ich hier gesehen hatte, Madam, den Sie Vyvyan nannten. «Sie nickte langsam, das Gesicht voller Mitleid.»Du hast genug gelitten, Martyn, und wir haben uns große Sorgen um dich gemacht. «Sie küßte ihn sanft.»Jetzt ins Bett mit dir. Du findest in deinem Zimmer alles, was du brauchst. «Hugh Bolitho starrte ihn noch immer an, als habe er sich verhört.»Sir Henry? Sind Sie sicher?»
Seine Mutter rief dazwischen:»Laß ihn, Hugh. Dem armen Jungen ist schon genug Leid zugefügt worden!«Bolitho sah seines Bruders alte Energie und Entschlossenheit zurückkehren wie eine Bö, die sich plötzlich einem Schiff in der Flaute nähert.
«Für dich ist er vielleicht ein Junge, Mutter. Trotzdem bleibt er immer noch einer meiner Offiziere. «Hugh konnte seine Erregung kaum verbergen.»Dicht unter unseren Augen… Kein Wunder, daß Vyvyans Leute immer in der Nähe waren und wir niemals einen Schmuggler fingen. Und — er mußte sich seines Pseudoge-fangenen entledigen, bevor ein Untersuchungsrichter auftauchte. Der Mann hätte sonst gegen ihn ausgesagt, um sein Leben zu retten.»
Bolitho fühlte, wie sein Mund trocken wurde. Wenn das stimmte, dann hatte Vyvyan sogar einige seiner eigenen Leute erschießen lassen, damit es echt aussah. Dann war er ein Ungeheuer, kein Mensch. Und beinahe hätte alles geklappt, konnte noch immer klappen, wenn Dancers Erzählung keinen Glauben fand. Strandräuber, Schmuggler, Rebellen aus den amerikanischen Kolonien — es kam ihm vor wie ein böser Traum. Vyvyan hatte das alles geplant, die Behörden die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. Es war ihm auch gelungen, ihnen die Idee mit dem Gefangenenaustausch in den Kopf zu setzen.
Seinen Bruder fragte Bolitho:»Was wirst du tun, Hugh?«Dieser lachte bitterböse.»Ich wäre geneigt, dem Admiral einen ausführlichen Bericht zu schicken. Aber erst wollen wir herausfinden, wo dieses verdammte Dorf liegt. Es kann nicht weit von der Küste entfernt sein. «Seine Augen glühten.»Das nächste Mal, Richard, das nächste Mal wird er we niger Glück haben!«Bolitho folgte Dancer die Treppe hinauf in sein Zimmer, vorbei an den kritischen Augen der Ahnenporträts.»In Zukunft, Martyn, will ich mich nie mehr beklagen, daß ich auf einem Linienschiff Dienst tue.»
Dancer setzte sich auf den Bettrand und lauschte dem Heulen des Windes.
«Ich auch nicht. «Er rollte sich auf die Seite, müde und erschöpft. Als Bolitho Dancers blonden Schöpf im Kerzenlicht betrachtete, kam ihm plötzlich jener andere Blondkopf in den Sinn, der tot im nassen Gras gelegen hatte, und ihn durchströmte ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit.