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Patrick Süskind

Ein Kampf

An einem frühen Abend im August, als die meisten Menschen den Park bereits verlassen hatten, saßen sich im Pavillon an der Nordwestecke des Jardin du Luxembourg noch zwei Männer am Schachbrett gegenüber, deren Partie von einem guten Dutzend Zuschauer mit so gespannter Aufmerksamkeit verfolgt wurde, daß, obwohl die Stunde des Aperitifs schon näher rückte, niemand auf den Gedanken gekommen wäre, die Szene zu verlassen, ehe der Kampf sich nicht entschieden hätte.

Das Interesse der kleinen Menge galt dem Herausforderer, einem jüngeren Mann mit schwarzen Haaren, bleichem Gesicht und blasierten dunklen Augen. Er sprach kein Wort, bewegte keine Miene, ließ nur von Zeit zu Zeit eine unangezündete Zigarette zwischen den Fingern hin und her rollen und war überhaupt die Nonchalance in Person. Niemand kannte diesen Mann, keiner hatte ihn bisher je spielen sehen. Und doch war vom ersten Augenblick an, da er sich nur bleich, blasiert und stumm ans Brett gesetzt hatte, um die Figuren aufzustellen, eine so starke Wirkung von ihm ausgegangen, daß jeden, der ihn sah, die unabweisbare Gewißheit überkam, man habe es hier mit einer ganz außergewöhnlichen Persönlichkeit von großer und genialer Begabung zu tun. Vielleicht war es nur die attraktive und zugleich unnahbare Erscheinung des jungen Mannes, seine elegante Kleidung, seine körperliche Wohlgestalt; vielleicht waren es die Ruhe und Sicherheit, die in seinen Gesten lagen; vielleicht die Aura von Fremdheit und Besonderheit, die ihn umgab – jedenfalls sah sich das Publikum, ehe noch der erste Bauer gezogen war, schon fest davon überzeugt, daß dieser Mann ein Schachspieler ersten Ranges sei, der ein von allen insgeheim ersehntes Wunder vollbringen würde, welches darin bestand, den lokalen Schachmatador zu schlagen.

Dieser, ein ziemlich scheußliches Männlein von etwa siebzig Jahren, war in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil seines jugendlichen Herausforderers. Er trug die blauhosige und wollwestige, speisefleckige Kluft des französischen Rentners, hatte Altersflecken auf den zitternden Händen, schütteres Haar, eine weinrote Nase und violette Adern im Gesicht. Er entbehrte jeglicher Aura und war außerdem unrasiert. Nervös paffte er an seinem Zigarettenstummel, wetzte unruhig auf dem Gartenstuhl hin und her und wackelte ohne Unterlaß bedenklich mit dem Kopf. Die Umstehenden kannten ihn bestens. Alle hatten sie schon gegen ihn gespielt und immer gegen ihn verloren, denn obwohl er alles andere als ein genialer Schachspieler war, hatte er doch die seine Gegner zermürbende, sie aufbringende und geradezu hassenswerte Eigenschaft, keine Fehler zu machen. Man konnte sich bei ihm nicht darauf verlassen, daß er einem durch die kleinste Unaufmerksamkeit entgegenkam. Es mußte einer, um ihn zu besiegen, tatsächlich besser spielen als er. Dies aber, so ahnte man, würde noch heute geschehen: ein neuer Meister war gekommen, den alten Matador aufs Kreuz zu legen – ach was! – ihn niederzumachen, niederzumetzeln, Zug um Zug, ihn in den Staub zu treten und ihn die Bitterkeit einer Niederlage endlich kosten zu lassen. Das würde manche eigne Niederlage rächen!

»Sieh dich vor, Jean!« riefen sie noch während der Eröffnungszüge, »diesmal geht's dir an den Kragen! Gegen den kommst du nicht auf, Jean! Waterloo, Jean! Paß auf, heute gibt's ein Waterloo!«

»En bien, en bien…«, entgegnete der Alte, wackelte mit dem Kopf und bewegte mit zögernder Hand seinen weißen Bauern nach vorn.

Sobald der Fremde, der die schwarzen Figuren hatte, am Zug war, wurde es still in der Runde. An ihn hätte niemand das Wort zu richten gewagt. Man beobachtete ihn mit scheuer Aufmerksamkeit, wie er stumm am Brett saß, seinen überlegenen Blick nicht von den Figuren nahm, wie er die unangezündete Zigarette zwischen den Fingern rollte und mit raschen sicheren Zügen spielte, wenn die Reihe an ihm war.

Die ersten Züge des Spiels verliefen in der üblichen Weise. Dann kam es zweimal zum Abtausch von Bauern, dessen zweiter damit endete, daß Schwarz auf einer Linie einen Doppelbauern zurückbehielt, was im allgemeinen nicht als günstig gilt. Der Fremde hatte jedoch den Doppelbauern gewiß mit vollem Bewußtsein in Kauf genommen, um in der Folge seiner Dame freie Bahn zu schaffen. Diesem Ziel diente offenbar auch ein sich anschließendes Bauernopfer, eine Art verspätetes Gambit, das Weiß nur zögernd, beinahe ängstlich annahm. Die Zuschauer warfen sich bedeutende Blicke zu, nickten bedenklich, schauten gespannt auf den Fremden.

Der unterbricht für einen Moment sein Zigarettenrollen, hebt die Hand, greift nach vorn – und in der Tat: er zieht die Dame! Zieht sie weit hinaus, weit in die Reihen des Gegners hinein, spaltet gleichsam mit seiner Damefahrt das Schlachtfeld in zwei Hälften. Ein anerkennendes Räuspern geht durch die Reihen. Was für ein Zug! Welch ein Elan! Ja, daß er die Dame ziehen würde, man ahnte es – aber gleich so weit! Keiner der Umstehenden – und es waren durchweg schachverständige Leute – hätte einen solchen Zug gewagt. Aber das machte eben den wahren Meister aus. Ein wahrer Meister spielte originell, riskant, entschlossen – eben einfach anders als ein Durchschnittsspieler. Und deshalb brauchte man als Durchschnittsspieler auch nicht jeden einzelnen Zug des Meisters zu verstehen, denn… in der Tat verstand man nicht recht, was die Dame dort sollte, wo sie sich befand. Sie bedrohte nichts Vitales, griff nur Figuren an, die ihrerseits gedeckt waren. Aber der Zweck und tiefere Sinn des Zuges würde sich bald enthüllen, der Meister hatte seinen Plan, das war gewiß, man erkannte es an seiner unbeweglichen Miene, an seiner sicheren, ruhigen Hand. Spätestens nach diesem unkonventionellen Damezug war auch dem letzten Zuschauer klar, daß hier ein Genie am Schachbrett saß, wie man es so bald nicht wiedersehen würde. Jean, dem alten Matador, galt bloß noch hämische Anteilnahme. Was hatte er solch urkräftiger Verve schon entgegenzusetzen? Man kannte ihn doch! Mit Klein-Klein-Spiel würde er wahrscheinlich versuchen, sich aus der Affäre zu ziehen, mit vorsichtig hinhaltendem Klein-Klein-Spiel. …Und nach längerem Zögern und Wägen schlägt Jean, anstatt auf den großräumigen Damezug eine entsprechend großräumige Antwort zu geben, ein kleines Bäuerlein auf H4, das durch das Vorrücken der schwarzen Dame seiner Deckung entblößt war.

Dem jungen Mann gilt dieser abermalige Bauernverlust für nichts. Er überlegt keine Sekunde lang – dann fährt seine Dame nach rechts, greift ins Herz der gegnerischen Schlachtordnung, landet auf einem Feld, von wo sie zwei Offiziere – ein Pferd und einen Turm – gleichzeitig angreift und darüber hinaus in bedrohliche Nähe der Königslinie vorstößt. In den Augen der Zuschauer glänzt die Bewunderung. Was für ein Teufelskerl, dieser Schwarze! Welche Courage! »Ein Professioneller,« murmelt es, »ein Großmeister, ein Sarasate des Schachspiels!« Und ungeduldig wartet man auf Jeans Gegenzug, ungeduldig vor allem, um den nächsten Streich des Schwarzen zu erleben.

Und Jean zögert. Denkt, martert sich, wetzt auf dem Stuhl hin und her, zuckt mit dem Kopf, es ist eine Qual, ihm zuzusehen – zieh endlich, Jean, zieh und verzögere nicht den unausweichlichen Gang der Ereignisse!

Und Jean zieht. Endlich. Mit zitternder Hand setzt er das Pferd auf ein Feld, wo es nicht nur dem Angriff der Dame entzogen ist, sondern sie seinerseits angreift und den Turm deckt. Nunja. Kein schlechter Zug. Was blieb ihm auch anderes übrig in dieser bedrängter Lage als dieser Zug? Wir alle, die wir hier stehen, wir hätten auch so gespielt. – »Aber es wird ihm nichts helfen!« raunt es, »damit hat der Schwarze gerechnet!«

Denn schon fährt dessen Hand wie ein Habicht über das Feld, greift die Dame und zieht… – nein! zieht sie nicht zurück, ängstlich, wie wir es getan hätten, sondern setzt sie nur ein einziges Feld weiter nach rechts! Unglaublich! Man ist starr vor Bewunderung. Niemand begreift wirklich, wozu der Zug nützt, denn die Dame steht jetzt am Rande des Feldes, bedroht nichts und deckt nichts, steht vollkommen sinnlos – doch steht sie schön, irrwitzig schön, so schön stand nie eine Dame, einsam und stolz inmitten der Reihen des Gegners… Auch Jean begreift nicht, was sein unheimliches Gegenüber mit diesem Zug bezweckt, in welche Falle es ihn locken will, und erst nach langem Überlegen und mit schlechtem Gewissen entschließt er sich, abermals einen ungedeckten Bauern zu schlagen. Er steht jetzt, so zählen die Zuschauer, um drei Bauern besser da als der Schwarze. Aber was sagt das schon! Was hilft dieser numerische Vorteil bei einem Gegner, der offenbar strategisch denkt, dem es nicht auf Figuren, sondern auf Stellung ankommt, auf Entwicklung, auf das urplötzliche, blitzschnelle Zuschlagen? Hüte dich, Jean! Du wirst noch nach Bauern jagen, wenn im Folgezug dein König fällt!

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